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Nachgerade schützenswert

nachgerade.jpgWörter können wie kleine Edelsteine sein. Man schätzt sie, man hütet sie, man freut sich, wenn sie einem begegnen. Das Wort nachgerade könnte ein solcher kleiner Edelstein sein. Überflüssig, geziert, veraltet oder einfach fremd mutet es den einen an – eine Wohltat ist es für das Ohr des anderen. Jedenfalls ist nachgerade ein Wort, in dem gleich zwei kraftvolle, sich teils überschneidende Bedeutungen stecken können.

Das Wort nachgerade stammt ursprünglich aus dem Niederdeutschen. Als unflektierbares Adverb steht es entweder in der Bedeutung geradezu oder für allmählich, letztlich, endlich, nach und nach; manchmal umfasst es gar beide Bedeutungen zugleich. Weil es nicht sehr häufig vorkommt und in der gesprochenen Sprache (deshalb) steif wirken kann, eignet es sich zur Betonung oder Hervorhebung besonders gut. In beiden Bedeutungen ein Wort mit verstärkendem Charakter.

Dieser Punkt ist nachgerade entscheidend.
Bedeutung: geradezu

Dieser Punkt wurde nachgerade entscheidend.
Nachgerade ist dieser Punkt der entscheidende.

Bedeutung: allmählich, letztlich, endlich, nach und nach

Ich schlage nachgerade für die imaginäre Liste der Benutz-sie-doch-mal-wieder-Wörter vor; ein rechtes Kleinod, wenn es an seinem Platz sich fügt. Sie haben auch ein Wort, das Sie gerne öfter hören würden? Dann her damit, ich bin ganz Ohr!

Ruwen Schwerin am 05.01.11 | Kommentare (10) | Visits: 30598

Rubrik Sprach|wörter:

Ohne Wort kein Satz. Ohne Wörter keine Sprache. Wie schön, dass die Sprache, im übertragenen Sinne, ein großer Wortschatz ist. Leider verschwinden schöne Wörter da, wo andere, vorerst fremde kommen. Anglizismen, veraltete Ausdrücke, Jugendsprache und befremdliche Wortschöpfungen – auch in ihren kleinsten Teilen kann Sprache begeistern oder entfremden. Doch auch hier: Ein zweiter Blick lohnt sich fast immer ...

Kommentare

1  Linguistikstudent

Wie man an meinem Namen sehen kann, studiere ich Linguistik und bin gerade hier auf der Seite ein bisschen am Stöbern. 'Nachgerade' kannte ich bisher noch überhaupt nicht, aber was mir wirklich ein Schmunzeln entlockt hat, war der Ausdruck 'Ich bin ganz Ohr'. Das habe ich wirklich schon lange nicht mehr gehört und es ist doch eigentlich so ein schöner, adretter und netter Ausdruck!

Geschrieben von Linguistikstudent am January 17, 2011 1:35 AM

2  papa enrique

"Ich bin ganz Ohr" verfeinerte einer meiner Linguistik-Professoren in Seminaren zu "Ich bin ganz Ihr Ohr".

Geschrieben von papa enrique am January 24, 2011 7:35 PM

3  Ruwen Schwerin

Auch nett, die Ordinarius-Variante. ;-) In dieser Form dann auch gehörig vom Staub befreit, fast schon ein wenig höhnisch.

Geschrieben von Ruwen Schwerin am January 24, 2011 8:06 PM

4  Unkorrektor

Ich bin im Gegensatz zu Ruwen Schwerin der Auffassung, dass »nachgerade« eher zu oft verwendet wird. In den meisten Fällen zeugt seine Verwendung von schlechtem, überladenem Stil.

Wie oben gezeigt, kann »dieser Punkt ist nachgerade entscheidend« auch gesagt werden als »dieser Punkt ist geradezu entscheidend«. Stilistisch besser, weil
viel klarer, wäre in den meisten Fällen allerdings »dieser Punkt ist entscheidend«. Wörter, die ohne Bedeutungsverlust gestrichen werden können, sollten auch gestrichen werden. Oder ist ein Punkt, der »nachgerade« entscheidend ist, vielleicht eben gar nicht wirklich so entscheidend?

»nachgerade« ist ein Wort für Blender, die mit der Größe ihres aktiven Wortschatz renommieren wollen, indem sie Wörter verwenden, die Durchschnittsdeutsche entweder gar nicht kennen oder jedenfalls nicht übersetzen können. Der obige Kommentar von Linguistikstudent bestätigt mich in meiner Überzeugung.

Geschrieben von Unkorrektor am March 2, 2011 11:55 AM

5  Ruwen Schwerin

Schlechter, überladener Stil ist wohl in den wenigsten Fällen erstrebenswert, stimme ich zu – von einem einzelnen Wort hängt er meiner Meinung nach allerdings in keinem Fall ab. Wirkung und Stil der Sprache sind doch nie unabhängig von Sprecher und Situation.

Ich mag das Wort nachgerade, seine Stärken und seinen Charme sehe ich dabei eher in der geschriebenen Sprache mit ihrer eigenen Dynamik. Im persönlichen Gespräch mit Freunden würde ich das Wort wohl nur selten verwenden – und wenn, dann als bewusstes Mittel. Wem seine Sprache in seiner Welt unbeschwert als ein schönes und authentisches Mittel zur Kommunikation dient, der wird schon wissen, wann und vor wem er welches Wort verwenden kann, ohne einen Verdacht auf sich zu ziehen oder zu befremden. Ich drücke mich meistens eher locker und unbefangen aus – aber unter Generalverdacht geraten Wörter bei mir nur selten.

„Wörter, die ohne Bedeutungsverlust gestrichen werden können, sollten auch gestrichen werden.“

Mag für Sachtexte mit bestimmter Zielsetzung gelten – ansonsten wüsste ich nicht, warum man eine solche Regel aufstellen sollte; zumal es, je nach Kontext, zum Glück allein dem Sprecher oder dem Verfasser eines Textes obliegt, welches Wort er als entbehrlich betrachtet oder nicht. Und das Wort nachgerade kann, wie oben angeführt, alles andere als entbehrlich sein.

„‚nachgerade‘ ist ein Wort für Blender, die mit der Größe ihres aktiven Wortschatz renommieren wollen, indem sie Wörter verwenden, die Durchschnittsdeutsche entweder gar nicht kennen oder jedenfalls nicht übersetzen können.“

Was einen dazu bewegt, ein Wort losgelöst vom Drumherum zum Inbegriff für Blendertum zu erklären, kann ich nicht nachvollziehen. Erst recht nicht bei einem Wort wie nachgerade, das einen deutschen Ursprung hat und sich aufgrund seiner Bestandteile schon recht gut intuitiv erschließt. Klar kann einem gestanzte, aufgesetzte Sprache nach Belieben missfallen – aber das ist dann grundsätzlich erst mal unabhängig von den einzelnen verwendeten Wörtern. Ich höre und lese das Wort nachgerade nicht sehr oft und kann nicht erkennen, dass ihm hier eine Sonderstellung zukommt. Das gleiche Wort, der gleiche Satz kann aus verschiedenen Mündern, in anderen Situationen eine ganz andere Wirkung, einen ganz anderen Sound haben.

Vielfalt und Auswahl sind doch etwas grundsätzlich Positives – da gilt bei der Sprache keine Ausnahme. Dabei kann dann etwas Gutes oder etwas Schlechtes herauskommen; wie es der Einzelne eben individuell empfindet und beurteilt. Der eine mag dieses Wort, der andere jenes.

Erfreulicherweise werde ich von der Sprache meiner Umgebung nicht so geplagt, dass ich mich genötigt sehe, sie in Kategorien einzuteilen und andere dann mit meinen Regeln zu bedenken. Jedem das Seine: Wenn ich jemanden nicht gerne lese oder höre, dann vermeide ich das einfach (soweit möglich). Durchaus auch den gestanzten Ausdruck mancher Zeitgenossen, selbst wenn das nie der Ausdruck meiner Wahl wäre, habe ich in liebevoller Erinnerung. Auch das kann passen.

Was ich dagegen ablehne: Oberlehrertum und Pauschalisierung, auch und besonders im Bereich der Sprache. Egal ob es nun die Suche nach „Ungrammatik“ ist oder, wie hier, die pauschale Ablehnung alles nicht allgemein Gebräuchlichen. Zumal es völlig unterschiedlich sein kann, was in welcher Umgebung wie wahrgenommen wird.

Ich finde, dass nachgerade ein nachgerade schönes Wort ist – und wie jedes Wort und jeder Satz macht es sich natürlich am besten, wenn es da passt, wo man es im Einzelnen hört oder liest. Und wie man das anstellt, das bleibt dann zum Glück jedem selbst überlassen. ;-)

Geschrieben von Ruwen Schwerin am March 2, 2011 3:16 PM

6  Lingua franca

Da "geradezu" und "allmählich" nachgerade widersprüchliche Bedeutungen haben, ist es nicht verwunderlich, dass "nachgerade" selten verwendet wird - es sei denn, der Schreibende will gar nicht so genau verstanden werden, weil er nicht so recht weiß, was er sagen soll. Zu empfehlen ist das Wort "nachgerade" - auch wegen seiner geringen Verständlichkeit - vor allem für Volontäre, die Ambitionen aufs Feuilleton haben. Aber natürlich sollte man niemandem, der das Wort mag, die Benutzung verbieten.

Geschrieben von Lingua franca am March 12, 2011 6:56 PM

7  Ruwen Schwerin

Aber natürlich sollte man niemandem, der das Wort mag, die Benutzung verbieten.

Natürlich nicht. Weshalb denn auch ...

Aber ein Wort speziell für Volontäre mit Feuilletonambitionen zu empfehlen – das hat durchaus seichten Feuilletoncharakter. :-)

Geschrieben von Ruwen Schwerin am March 12, 2011 8:24 PM

8  Lingua franca

Sie verstehen Spaß, Herr Schwerin? Im Zweifelsfall auch schön: http://www.rasputin.de/Humorlos/test.html

Geschrieben von Lingua franca am March 14, 2011 5:29 PM

9  Anthonym

Nachgerade noch „das“ da!

"Der Honig ist nicht weit vom Stachel.“
Wer dass hört - denkt: "Isst" mit zwei "ss"; weil da jemand den Honig "isst"?

Demzufolge:

Und nachgerade: Komisch, wieviel Deutsch ein Deutscher versteht von der wörtlichen Rede her. Da fragt - nachgerade? - keiner nach, wörtlich zu denken: "Du, sag mir mal, wie hast du das dritte Wort in dem Sätzchen geschrieben, mit Doppel-„S" hej? Oder – wie?"

Der Deutsche (mask. und fem.) versteht alle vier Wortarten, die sich aus der Lautfolge "das/das/daß" bilden lassen. Und zwar seit dem dritten Lebensjahr; nur nicht mehr, wenn er in der Schule Wortarten lernen soll; bis zur seiner angeblichen Hochschulreife!)

Ergo:
1. Artikel,
2. Relativpronomen,
3. Demonstrativpronomen,
4. Konjunktion "dass/daß[?]".

Demzufolge??
1. „D as“ Haus...

2. Das Haus, „d a s“

3. „D a s“ Haus da vorne!

4. Ich weiß, „daß“ das Haus da vorne abgerissen werden muss, weil ein fleißiger Architekt die Lautung "dass/das/daß" im Bauantrag falsch geschrieben hat.

[Tanta ergo:
Zweimal ein Pronomen; einmal ein Artikel; einmal eine Konjunktion. [Und: Zwei dieser Kopula leiten einen Nebensatz ein; zwei schmücken ein Nomen – dies für die Grammatiker oder Latein-Verzweifler oder Latein/Griechisch/Oberdeutsch-Unterlehrer!)]

Nachgerade:

Er, der deutsch-kompetente Sprecher, versteht jeden dieser Sätze, ohne sich selbst grammatisch oder einen Oberlehrer befragen zu müssen:
Du, das "das" [als Phonem] im dritten Satz, ist das ein Relativpronomen?

Er versteht a l l e Pronomen/Artikel/Konjunktionen r i c h t i g - ohne einen Oberlehrerer im Nacken zu verspüren; oder einem akademischen Menschen die Schreibweise vor oder nach Diktaten oder Sonderschulprüfungen verantworten zu müssen.

Demzufolge:

Warum müssen - im gesamten deutschsprachigen Raum - w i r etwas, was jede(r) versteht, mit verschiedenen Graphemen festhalten, wenn w i r es "im Kopp" schon lange verstanden haben, ohne zu zucken oder zu sucken, pardon: suchen!

Das ist eine schulmäßige Falle, die immer wieder neu anzulegen, hübsch-verdeckt auszustatten, jedes blöden Lehrers Aufgabe und Lust und Rechtsucherei ausmacht.


Demzufolge und nachgerade -

diesen Beitrag schrieb ein OStR - allerdings i. R., was nicht heißt, bitte schön: in pace; sondern: in UnRuhe.
Und was an Artikel/Konjunktion/Pronomina
habe ich falsch geschrieben - weil ich dieen Beitrag nicht vorlesen konetn, sondern in Schriftdeutsch abfassen musste.

Das möchte ich noch wisssen!
Ach: Was nur?
Demzufolge und nachgerade:
Si tacuissem!

Geschrieben von Anthonym am October 12, 2011 3:33 PM

10  Elisabeth Pröll

"Fürwahr" ist ein echtes Kleinod, das unbedingt in die Liste der "Benutz-sie-doch-mal-wieder-Wörter" gehört...

Vielleicht sollte man noch eine Liste "Benutz-sie-NIE..." erstellen, angefangen mit "von dem her"👎

Geschrieben von Elisabeth Pröll am November 8, 2015 5:40 AM

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