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Die Titin-Lüge

Autor:Ivan Panchenko –
Datum: Mi, 14.05.2025, 20:11

Ein 189 819 Buchstaben langer englischer Name – die deutsche Entsprechung wäre einen Buchstaben kürzer! – bezeichnet das Protein Titin (genauer: eine Isoform von menschlichem Titin mit Frameshiftmutation) anhand der Aminosäuresequenz. An dessen Stelle kursiert jedoch ein ebenso langes Wort, welches Ungereimtheiten aufweist, wie von anderen (namentlich -sche und androl) bereits festgestellt wurde, es enthält nämlich Wiederholungen und Bestandteile, die da nicht hingehören: acetyl (die Azetylgruppe stammt von der Essigsäure, die kein Amin ist), titin (ein Selbstbezug), ethionyl (Äthionin ist im Gegensatz zu Methionin eine nichtproteinogene Aminosäure) und serx.

Heute habe ich festgestellt, dass sich an mindestens zwei anderen Namen bedient wurde, nämlich einem für das Tabakmosaikvirus (Dahlemense-Stamm), wobei das serine am Ende durch titin ersetzt wurde, und einem für die α-Untereinheit von Tryptophan-Synthase. Im gesamten Fake-Wort fehlt genau ein m und wurde genau ein seryl durch serx ersetzt, so dass die gleiche Buchstabenlänge herauskommt. Hier hat sich offenbar jemand einen Spaß erlaubt (ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Versehen war) und ausgerechnet die Fälschung hat sich verbreitet. Die früheste bekannte Erwähnung des gefälschten Wortes stammt von Convoy of Conwy im September 2006.

Dmitry Golubovsky versuchte mehrere Jahre, das Wort in der russischen Esquire zu veröffentlichen. Der damalige Redakteur Bakhtin zeigte sich schließlich dazu bereit, wenn Golubovsky es vorliest. Das tat er auch. In der russischen Version, die in kyrillischer Schrift gezeigt wurde, ist zu sehen, dass serx und titin einfach übersprungen wurden. Somit müssten diese Ungereimtheiten eigentlich aufgefallen sein, dennoch wurde die russische Version unkritisch verbreitet – ist das dieser journalistische Anspruch in Russland? Egal. Weitere Abweichungen der russischen Version sind cysteyl statt cysteinyl (die letztgenannte Variante wird fachlich zur Abgrenzung von der Zysteinsäure bevorzugt), isoisoleucyl statt isoleucyl und ein ausgelassenes iso an 19 Stellen. Das Video enthält übrigens Schnitte (ca. 21:35, 29:50, 43:10, 53:20, 1:05:00, 1:15:45, 1:26:25, 1:34:35, 1:46:50, 1:58:55, 2:09:20, 2:20:00, 2:30:35, 2:40:55, 2:51:25, 3:01:55, 3:17:45), so dass Golubovsky ein Bart wächst und die Pflanze stirbt.

Ist die richtige, nicht gefälschte Version das «längste Wort»? Es gibt auch eine Isoform mit 241 578 Buchstaben (deutsch: 241 577 Buchstaben). Das größte direkt nachgewiesene (statt nur vorhergesagte) Protein mag zwar Titin sein, das macht es aber nicht zur größten natürlich vorkommenden chemischen Verbindung, es gibt ja noch DNA-Stränge, allein proteinogene Aminosäuren werden mit einer oder mehreren Sequenzen von drei Nukleotiden kodiert. Überhaupt können immer längere Wörter konstruiert werden. Wahrheit und grammatikalische Korrektheit sind sowieso zwei unterschiedliche Dinge, aber ich kann sogar wahrheitsgemäß behaupten, keinen Ururururur…großvater (mit 10100 Wiederholungen von ur) zu haben.

 

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