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Teil 2: Geschlechterzählerei, Würmer, Nebelkerzen

Autor:Ivan Panchenko –
Datum: Fr, 29.12.2023, 13:13
Antwort auf: Aneinander vorbeireden: Pluto war nie ein Planet (Ivan Panchenko –)

“Biological” is an awful word for it
because it’s equivocal between natural,
bodily, and biological–scientific
(Aaron Gross)

Grundsätzliches vorweg: In der Evolutionsbiologie, wo Fortpflanzung von fundamentalem Interesse ist, kann Geschlecht nach Keimzellen definiert werden, sozial müssen sie aber nicht ausnahmslos entscheidend sein (vgl. Adoptiv-/Stiefeltern), ohne von für das andere Geschlecht typischen Merkmalen übertrumpft zu werden. Ohne Gametogenese kann reproduktiv nach einem Vorschlag nach der Art von Keimzellen klassifiziert werden, auf deren Produktion der Körper «ausgelegt» ist. Für ein Argument dafür, dass Menschen ihr Bio-Geschlecht in diesem Sinn ändern können, vgl. Carter (2022). Ob das überzeugt oder nicht: So wie die Hautfarbe nicht Gegenstand einer üblichen Anrede ist («Frau Müller» statt «weiße Frau Müller»), so wollen einige nicht nach dem Fortpflanzungsgeschlecht angeredet oder gar nicht erst geoutet (!) werden und wählen andere geschlechtergetrennte Räume (für Zweifelnde: eine Wahrscheinlichkeitsrechnung). Grace Lavery: «i don’t care what a woman is, or if I am one[.]» «I care intensely about whether the state has a file on my genitals, and about whether survivors of rape are subjected to surveillance when accessing care.» (Es gibt gute Evidenz für Verbesserung der Lebensqualität durch GA-Maßnahmen, im verlinkten Artikel wird auch ein Missverständnis über das affirmative Modell ausgeräumt.)

1) Ulrich Kutschera macht einen Vorwurf daraus, dass Stephanie Dreyfürst den Alltagsbegriff Würmer gebraucht, obwohl er das im von ihr rezensierten Buch selbst tut. Sex beschränkt er auf Befruchtung und spricht statt von homosexuellen Paaren von a-sexuellen Erotik-Duos (🥴), während Homosex bei ihm für Selbstbefruchtung steht (das scheint seine Erfindung zu sein; Auto- wäre naheliegender). Mit englisch gender wird sex (Geschlecht), was auch für Sexualverhalten stehen kann, umgangen. Biologisch bleibt es meist bei sex: secondary sex characteristics, dagegen heutzutage eher gender equality als sex e., man bevorzugt aber same-sex marriage gegenüber same-g. m. (vielleicht weil da kaum eine Verwechslung mit Sex droht?), wo sex wohlgemerkt im soz. Sinn gebraucht werden kann. Ich würde Bedeutungsunterschiede kontextabhängig lassen; in einem Atemzug male women zu sagen (male für den biol. Sexus, women für das soz. Gender), ohne Multigender-Leute zu meinen, ist verwirrend. Zudem unterscheiden Wethington und Dillon (1996) bei Physa-Schnecken zwischen sexual conflict und gender conflict, wo gender zur Vermeidung einer Verwechslung passend erscheint. Selbst sex characteristics ist mit der soz. Bedeutung verträglich, da bio- und soziologisches Geschlecht meist übereinstimmen und es bloß um den Normalfall geht.

2) Manche sagen «mehr als zwei biologische Geschlechter», da sie geschlechtliche Ausprägungen zählen, aber nach üblichem Verständnis stehen für Geschlechter männlich und weiblich statt etwa endomännlich und endoweiblich (endo- ist das Gegenteil von intersex). Menschen mit Klinefelter-Syndrom gehören nicht zu einem dritten chromosomalen Geschlecht, sie sind chromosomal männlich (das heißt, dass die Geschlechtschromosomen auf das männliche Geschlecht hindeuten, und Menschen mit XXY-Chromosomen sind normalerweise (gonadal und nach Selbstidentifikation) männlich). Körperlich bleibt es also bei nur zwei Geschlechtern, wobei manche Menschen (grob gesagt) Merkmale beider haben. Vielleicht* ist es anders, wenn man von Geschlechtern statt gam. Geschlechtern redet, denn manche verstehen sich als weder männlich noch weiblich, aber sehen sich nicht als geschlechtslos (agender), sondern irgendwo dazwischen. (* Inwieweit solche Labels sinnvoll sind, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden.) Zum Vergleich: Schwarz-Weiß ist keine einzelne Farbe, Transparenz auch nicht, Grau aber schon. Statt biologisch sagen manche gametisch, germinal oder reproduktiv, in der Tat hat eine Hormonersatztherapie ja auch eine biologische Wirkung. Siggy: «Evidence shows that the competitive advantage of trans women over cis women is so small as to be dwarfed by other “acceptable” variance like body shape[.]» Fallunterscheidung: Während Organismen, die noch keine Spermien produzieren, sich aber dahin entwickeln, sinnvollerweise als reproduktiv männlich eingeordnet werden können, kann gesagt werden, dass Clownfische ihr Geschlecht wechseln (statt gleichzeitig beiden anzugehören), da sie sich nicht dazu entwickeln, gleichzeitig männliche und weibliche Geschlechtsorgane zu haben.

3) Ein Versuch: Es gibt Atheisten, die Jesus als Vorbild betrachten und sich damit als Christen sehen, und welche, die signifikante Überschneidungen mit christlichen Werten haben, ohne sich als Angehörige der Religion zu identifizieren. Ob man solche Leute Christen nennt, kann man nach Zugehörigkeitsempfinden entscheiden. Tomas Bogardus meint: «Literally whatever those words mean, it's one thing to be a man, or to be a woman, and another thing to identify as one.» Ich sehe da kein logisches Hindernis, mit let woman = {}; woman.id = woman kann etwas unendlich Verschachteltes definiert werden: {id: {id: …}}. Man kann aber auf das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Label Bezug nehmen (ähnlich wie mit einer Titelverleihung) und eine Fallunterscheidung für das Fehlen eines solchen Gefühls einbauen. Skizze (ohne mich darauf festzulegen): Das Wort männlich bezeichnet normalerweise […] und andere nicht (griech. arsenikós kann damit als äquivalent erkannt werden), aber anders werden Leute behandelt, die diese Kriterien nicht vollständig erfüllen und dennoch damit bezeichnet werden wollen oder diese Kriterien erfüllen und das Label für sich dennoch ablehnen. Der Einwand «Ich bin kein Cismann, sondern einfach ein Mann, denn Gender ist Gefühlssache und ich FÜHLE mich nicht männlich, sondern BIN biologisch männlich» ist hinfällig: Ohne übertrumpfende Abweichung kann man nach körperlichen Merkmalen gehen (und in «Ich bin ein Mann» wird sowieso das Label Mann gebraucht).

4) Bei der Definition von cis-/transgender würde ich eher auf das körperliche Geburtsgeschlecht (als Bündelbegriff verstanden) als auf die Geschlechtszuweisung bei Geburt Bezug nehmen, um ausgesetzte Kinder, die bei Geburt gar keinem Geschlecht zugeordnet wurden, zu erfassen. Manche transgeschlechtlichen Frauen geben an, eine Frau geworden zu sein (statt zu sagen, sie seien schon immer weiblich gewesen), hingegen ist es m. W. nicht üblich, das mit «trans werden» zu beschreiben – man transitioniert (sozial oder medizinisch), weil man bereits trans ist. Neben ‘Frau, die trans ist’ halte ich entsprechend ‘Person, deren weibl. Geschlecht ihrer Transgeschlechtlichkeit entspricht’ als Bedeutung von Transfrau für sinnvoll; das schließt auch Bigender-Personen aus, die sowohl männlich wie weiblich sind, bei denen aber nicht das weibliche, sondern das männliche Geschlecht vom körperlichen Geburtsgeschlecht abweicht (vgl. transweiblich statt trans und weiblich).

Meine vorige Analyse der Wortbildung intergeschlechtlich nehme ich zurück, man sagt ja auch Biomüll. Abschweifung: Den Familiennamen Cismondi habe ich zunächst mit diesseits der Welt (lateinisch cis und italienisch mondo) zu übersetzen versucht, aber eine Recherche ergab, dass er womöglich mit Gismund/Sigmund zu tun hat. Ein derart weltlicher Name wie diesseits der Welt (im Gegensatz zu Theodor ‘Gottesgeschenk’) wäre in Anbetracht der Entstehungszeit wohl ungewöhnlich.

 

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Ivan Panchenko – -- Mo, 25.12.2023, 00:10
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