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> Kurz angemerkt: Adverbien können die Zeit/Zeitebene ausdrücken,
> nicht aber das Tempus verändern. Morgen gehe ich zum Arzt
> ist ein Satz im Präsens, der Zukünftiges ausdrückt, aber das
> Tempus Futur I ist etwas anderes.
Kurz erwidert: Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß "Tempus" und "Futur" rein grammatische Fachbegriffe sind. Man darf, wenn man will, sie aber gerne etwas weiter fassen. Deine kurze Anmerkung, daß man nicht "Futur" sagen sollte, wo man "Zukünftiges" meint, könnte man, wenn man will, auch als allzu beckmesserisch bewerten.
Egal, nicht wichtig. Mir fiel heute ein Gedicht ein, das ich als Jugendliche auswendig wußte und dessen erste Strophe ich noch im Kopf habe:
Auch ich bin in Arkadien geboren,
Auch mir hat die Natur
An meiner Wiege Freude zugeschworen [Perfekt],
Auch ich bin in Arkadien geboren,
Doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur [Präteritum].
Ich frage mich, ob Schiller sich bei der Wahl der Tempora etwas gedacht hat oder ob sie mehr des Reimes und des Versmaßes wegen geschah. Immerhin könnte man annehmen, daß die Natur Freude "zugeschworen hat", anstatt daß sie Freude "zuschwor", weil das Versprechen bis heute (in der Zeitebene des Dichtenden) gilt; und daß der Lenz Tränen "gab", anstatt daß er Tränen "gegeben hat", weil die Tränen mittlerweile versiegt sind. Man könnte aber auch annehmen, daß die Natur deswegen Freude "zugeschworen" hat, damit sie einen Reim auf "geboren" abliefert.
Dann überlegte ich, ob "bin geboren" Perfekt ist. Aber "geboren" ist schlicht Passivpartizip, bzw. Adjektiv. Hätte Schiller "wurd' geboren" geschrieben, wär's Präteritum, und das Perfekt "bin geboren worden" klänge höchst unpoetisch.
Ich hab dann -- man weiß ja nie, ob man sich auf das eigene Gedächtnis verlassen kann -- den Wortlaut lieber noch einmal nachgelesen und mit Erstaunen bemerkt, daß Schiller in Wahrheit schrieb:
Auch ich war in Arkadien geboren,
Auch mir hat die Natur
An meiner Wiege Freude zugeschworen,
Auch ich war in Arkadien geboren,
Doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur.
Nun bin ich etwas ratlos. Denn "war geboren" ist Präteritum. Aber kann man geboren gewesen sein? (Interessanterweise läßt sich diese Frage nur mit dem Perfekt formulieren.)
Das ist ein sonderbarer Sonderfall, und er hat nicht viel zu tun mit der Frage, ob das Perfekt sich inhaltlich vom Präteritum unterscheide. Nun bin ich zwar der Meinung, daß es einen inhaltlichen Unterschied gibt, kann es letztlich aber nicht beweisen. Da gibt es jedoch einen schönen Grundsatz von Wissenschaftlichkeit: Stelle deine These auf die Probe, d.h. suche nicht nach Bestätigungen deiner These, sondern suche nach Widerlegungen. Bestätigungen findet man immer, aber 1000 Bestätigungen sind nichts wert gegen eine einzige Widerlegung. Ich traf auf einen ganz aktuellen Text, den man der Sparte Alltagsjournalismus zuordnen darf -- ein "Buchtipp" aus der "Publik", der Gewerkschaftszeitung von Verdi (Ausgabe 4/2012):
Viele Jahre hat das Aldi-Image des guten Arbeitgebers in der Öffentlichkeit kaum Kratzer gezeigt [Perfekt]. Der Pionier aller Discounter konnte sich zur Kultmarke hochjubeln lassen [Präteritum]. Daran änderten auch einzelne Medienberichte und ein sehr kritischer NDR-Dokumentarfilm von 2009 wenig [Präteritum]. So nachhaltig wie jetzt wurde die Ruhe der Billigheimer noch nie gestört [Präteritum Passiv]. Andreas Straub, ein ehemaliger Aldi-Manager von der Bezirksebene, hat mit "Aldi – einfach billig" ein Buch geschrieben [Perfekt], das aus der Führungsperspektive die brutale Unternehmenskultur aufdeckt. [...] ... keine Einzelfälle sind, wie der Konzern ... sofort behauptet hat [Perfekt]. [...] Offenbar hat Aldi auch in dieser Hinsicht den Pionier gespielt [Perfekt].
Hier sind Perfekt und Präteritum ziemlich beliebig gemischt. Schlampiger Schreibstil? Oder eine Widerlegung der These, daß beides verschiedene Bedeutung habe?
Mittlerweile bin ich mir -- ich gestehe es ein -- nicht mehr sicher.