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Aneinander vorbeireden: Pluto war nie ein Planet

Autor:Ivan Panchenko –
Datum: Mo, 25.12.2023, 00:10

Vielleicht folgt ein zweiter Teil als Antwort.

Wir haben Wörter, mit denen Situationen beschrieben werden können, in denen sie nicht in der jetzigen Bedeutung im Gebrauch waren. Pluto war nie ein Planet. Er wurde einst mit dem Wort Planet bezeichnet, aber nach aktueller Bedeutung des Wortes Planet ist der Satz «Pluto war nie ein Planet» wahr (zumindest nach meinem Verständnis). Dagegen gab es Gold und Silber zwar schon vor der Menschheit, aber solange das nicht als Zahlungsmittel anerkannt war, ist die Bezeichnung Geld dafür nicht treffend.

Warum würden so viele den Satz «Pluto war früher ein Planet» unterschreiben? Bei manchen Wörtern ist man sich über bestimmte Aspekte der Bedeutung nicht so einig. Ist die Planetendefinition der IAU unabhängig davon, über welche Zeit man spricht, als gültig zu verstehen? Weiterhin ist denkbar, dass Leute sich lax ausdrücken (à la «Heute gibt es den Äther nicht mehr») oder «interne» und «externe» Betrachtung aus einem Denkfehler heraus durcheinanderwerfen oder von einer speziellen Bedeutung ausgehen und nur solchen Kategorien, bei denen es sich um «natürliche» Kategorien handelt, einen ontologischen Status zusprechen, der davon unabhängig ist, ob eine entsprechende Kategorisierung vorgenommen wird, bla, bla, bla.

Für reaktionäre Verschwörungstheoretiker und Empörungsjournalisten (à la Die Welt, NZZ, Bild, …) können Äußerungen wie «Check out this awesome comic […] on why 2+2=4 is not always true...» gefundenes Fressen sein, um (bestimmte) Sozialwissenschaftler als ernste Gefahr gegen Wissenschaftlichkeit hinzustellen. Ein Beispiel ist, Menschen, die so etwas wie «Das biologische Geschlecht ist ein soziales Konstrukt» sagen, als Biologieleugner abzustempeln und auf eine Stufe mit Kreationisten zu stellen, obwohl das eigentliche Problem vielleicht darin besteht, dass sie sich ungünstig ausdrücken oder wichtigtuerisch daherschwurbeln, und es ihnen nicht darum geht, ein empirisch unzutreffendes Bild von biologischen Gegebenheiten zu etablieren, sondern eher darum, zu hinterfragen, inwieweit das Vornehmen einer solchen Kategorisierung unwillkürlich ist, oder darauf hinzuweisen, dass die Kategorisierung nach körperlichen Kriterien je nach Konvention oder Methodik unterschiedlich ausfallen kann (vgl.: 5α-Reduktase-2-Mangel).

Jemand hat eine Parodie gepostet: «2+2=4: A perspective in white, Western mathematics that marginalizes other possible values.» Daraufhin haben sich einige darüber ausgelassen, unter welchen Umständen etwas anderes gelten kann, indem sie von einer allgemeineren Bedeutung ausgegangen sind oder so etwas, was wiederum für Verdrehung und Aufplusterung zu einem überzogenen Skandal gegen Sozialgerechtigkeitsaktivismus ausgeschlachtet werden konnte (Zitat: «The Woke believe they can make their lies (like "2+2=5") true by changing the definitions of words whenever they want and without you noticing […]»). Auf den Satz «2 + 2 = 4» kommt man zwar auf physikalische Weise, aber wir können uns darauf einigen, die so erlangte Zeichenfolge als situationsunabhängig wahr zu verstehen (sollten sich physikalische Gesetze derart wandeln, dass zuvor gebaute Taschenrechner plötzlich 5 als Ergebnis anzeigen, ist das per Definition nicht das, worauf hier «2 + 2» referiert), und auf dieser Basis können Sätze mit empirischem Gehalt geformt werden. Man kann zwei Quadrate und zwei weitere Quadrate von derselben Größe zu einem fünften, größeren Quadrat zusammenlegen, aber die Anzahl der in «zwei Quadrate und zwei weitere Quadrate» erwähnten Dinge ist 4 (vom größeren Gesamtquadrat ist nicht die Rede). Kareem Carr schrieb jemandem: «I think you’re basically saying it’s a truth about an abstract world which might reflect situations we find ourselves in or it might not», aber wenn aus der Gleichung bspw. geschlossen wird, dass sich zusammengelegt nur vier Quadrate ergeben, ist das eine falsche Anwendung dieser Gleichung und ändert nichts an der Wahrheit der Gleichung an sich. Die Bedeutung der Zeichenfolge «2 + 2 = 4» ist Konventionssache (wie die von Banane, na und?), aber es GIBT eine gefestigte Konvention dazu, sodass Außenstehende sich darüber wundern können, dass man sich an dieser Gleichung abarbeitet und etwas über Kultur fabuliert, wo die Addition als solche elementar ist und ihre Bekanntheit nicht an einer bestimmten Kultur hängt. Carr selbst hat sich offen für Kritik gezeigt: «Fair enough. I'm figuring it out as I go so the feedback is appreciated.» Andererseits sind Abweichungen möglich, indem klargemacht wird, was gemeint ist (zum Beispiel «2 + 2 = 1 im Restklassenkörper Z/3Z»; übrigens gilt der Satz in dem Fall immer noch, sofern das Zeichen «4» akzeptiert wird, nur gilt dann eben «4 = 1»), und wenn schon extra «Objektivität» betont wird, kann bei anderen Leuten der Eindruck entstehen, dass solche Verwendungen in Abrede gestellt werden – an dieser Stelle kann also gut aneinander vorbeigeredet werden!

Noch provokanter: Gibt es Menschenrassen? Einerseits lassen sich bestimmte essentialistische Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert als widerlegt verwerfen, andererseits könnte argumentiert werden, dass diese nicht als definitorisch notwendiges Kriterium angesehen werden müssen und es beim Menschen genetische Cluster gibt, die der Bezeichnung Rasse gerecht werden (→ racial population naturalism). Historisch hat es sich so ergeben, dass das deutsche Wort Menschenrasse mit rassistischen Vorstellungen assoziiert wird, während das englische race (oft sozio- statt biologisch verstanden) weiterhin gebräuchlich ist und russische Anthropologen wie Stanislaw Drobyschewski, die ich dem racial population naturalism zurechnen würde, sogar Ausdrücke wie mongoloid verwenden. Ein rechter Autor meinte: «Im Gegensatz zu ‹Untermensch›, das den unwerten Menschen innerhalb einer Ordnung der Gestalten beläßt und dort abqualifiziert, stößt ‹Unmensch› diesen Menschen aus der gerade durch diesen Akt der Verbannung intakt gehaltenen Ordnung der Gleichen und Guten hinaus. Das ist der Grund, aus dem ‹Unmensch› anders als ‹Untermensch› weiterhin als akzeptabel gilt.» «Die Unwerterklärung zum Unmenschen ist für eine egalitär-universale Ordnung unverzichtbar. Sie ist ihre einzige Möglichkeit, Feindschaft gedanklich zu fassen.» Interessante These, aber zwischen Abwertung und hierarchischer Unterordnung besteht ein Unterschied. Beleidigungen wie Schwein oder Unmensch werden verwendet, ohne jemandem buchstäblich Menschenrechte abzusprechen, und menschlicher Abschaum ist nicht derart tabu wie Untermensch. Das Letztgenannte wurde 1922 von Ku-Klux-Klan-Mitglied Lothrop Stoddard eingeführt (in der Form Under-Man: «the man who measures under the standards of capacity and adaptability imposed by the social order in which he lives»). Theoretisch kann man sich das zwar auch als stinknormale Beleidigung vorstellen, aber es ist nun einmal nicht als solche etabliert. Davor kam zum Beispiel Nietzsche auf die Wortbildung, aber nicht als Beschimpfung («Erfindung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen»).

 

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