korrekturen.de | Korrektorat und Lektorat

Rechtschreibforum

Bei Fragen zur deutschen Rechtschreibung, nach Duden richtigen Schreibweise, zu Grammatik oder Kommasetzung, Bedeutung oder Synonymen sind Sie hier richtig. Bevor Sie eine Frage stellen, nutzen Sie bitte die Suchfunktionen.

Wie lernen wir schreiben?

Autor:Rolf Landolt
Datum: So, 28.10.2012, 19:00

Dieser beitrag bezieht sich auf:
Re: Frage zur alten Rechtschreibung von Karla Krauschen (3. 10. 2012)

> Sprechen lernt man durchs Zuhören,
> und schreiben lernt man durchs Lesen.

Ja, was das sprechen betrifft; im alter von 2 jahren hat man ja kaum andere möglichkeiten. Aber gilt das wirklich auch für das schreiben? Würde man es durchs lesen lernen, also auch z. b. «täglich im Supermarkt», müsste die schule keine zeit für den rechtschreibunterricht aufwenden. Das tut sie aber, und zwar in gewaltigem ausmass. So oder so ist der erfolg nicht berauschend: «Wörter wie ‹Lebensstandard› oder ‹Rhythmus› konnte damals [vor 20 jahren] wie heute nur jeder Zweite bzw. knapp jeder Dritte korrekt schreiben.» (Allensbach, 2008.) Nennt man das «vertaut sein» mit der schreibweise?

> liegt hier wiederum eine falsche Prämisse zugrunde,
> nämlich daß es im Deutschen eine eindeutige Laut-Buchstaben-Zuordnung gäbe

Eindeutig ist sie leider nicht (nicht mehr und noch nicht). Dass es keine regelhafte zuordnung gibt, ist hingegen unfug. Wenn es so wäre, hätten wir die nachteile der chinesischen schrift, ohne ihre vorteile zu haben. Dann müssten wir vielleicht «ross» schreiben und es als «auto» lesen. So schlecht ist unsere rechtschreibung aber nicht, nicht einmal die englische.

> Man kann sie [die rechtschreibung] nicht mehr lernen,
> wenn man keine einheitliche Schreibung mehr zu lesen bekommt

Wenn die annahme richtig wäre, würde sie auf grund eines circulus vitiosus immerhin erklären, warum die rechtschreibkenntnisse allgemein so schlecht sind. Denn was man täglich, «im Supermarkt» («zu Verkaufen», «zum mitnehmen» usw.) und anderswo, zu lesen bekommt (und schon vor der erfindung des internets zu lesen bekam), ist ja nicht das, was im duden steht, sondern das, was viele schreiber daraus machen. Ist das einheitlich, wenn es gemäss genannter Allensbach-umfrage aussieht? Oder die trefferquote beim pronomen «Sie» und seinen ableitungen bei 50% (beim werbespruch «für sie und ihn» bei 10%) liegt? Natürlich sollte man nur «gute» texte lesen, aber dazu müsste man in ein kloster eintreten.

Aber selbst wenn das lesen eine möglichkeit oder gar die einzige möglichkeit zum erlernen der rechtschreibung wäre, wäre noch nicht erklärt, warum es nur funktionieren soll, wenn die rechtschreibung vollkommen einheitlich ist und sich nie ändert. Kann es sein, dass wir hunderttausend wortbilder speichern können, aber wegen ein paar hundert neuen überfordert sind? Können nicht zwei oder mehr wortbilder, wie synonyme, für einen begriff stehen? Im fall der berühmten schülerin Josephine Ahrens wurde gerichtlich festgestellt, dass der wortbildspeicher im alter von zwölf jahren voll ist. Daran ändert dann wohl auch späteres fleissiges lesen nichts, was meine tese stützt, dass die rechtschreibung ausschliesslich in der schule gelernt wird.

Schade, denn wenn man die rechtschreibung wirklich durch lesen erwerben könnte, wäre das ja eigentlich eine ideale voraussetzung für rechtschreibreformen. Dann müssten nur die «FAZ», «Bild» und die supermärkte umstellen, und schon schrieben alle «neu». Das wäre dann das vielbeschworene lebenslange lernen, von dem die tese wohl ausgeht. Zum lernen gehört aber auch das umlernen, sonst nennt man es nicht «lernen», sondern «gewohnheit», und die ist das gegenteil von lernen.

Für die frage, ob wir die rechtschreibung durchs lesen lernen, gibt es eine aufschlussreiche versuchsanordnung: das ß in der Schweiz. In der schule lernt man es nicht, und in schweizerischen medien sieht man es nicht. Da die Schweiz klein ist, konsumieren wir schweizer auch sehr viele deutsche medien. Man sieht also durcheinander vermutlich etwa gleich viele texte mit und ohne ß. Wenn das lesen einen grossen einfluss auf die rechtschreibung hätte, wären wir entweder verwirrt (was sich in schreibfehlern äussern könnte) oder wir würden die verwendung des ß automatisch lernen. Beides ist überhaupt nicht der fall; man schreibt so, wie man es in der schule gelernt hat.

Deshalb wird die übergangszeit einer rechtschreibreform biologisch bestimmt, d. h. durch den tod des letzten altschreibers, und deshalb macht’s auch nichts. «Abweichungen von der verordneten orthographischen Norm, seien es Fehler oder Absicht, beeinträchtigen die Lesbarkeit nicht ernsthaft. Sie stören auch kaum. Oft bemerkt sie auch ein die Rechtschreibung im großen und ganzen beherrschender Leser überhaupt nicht.» (Ronald Lötzsch, 1997.) Schweizerische leser können meistens nicht sagen, ob ein gerade gelesener text ß enthielt. Ein bekannter filmtitel wird meistens (auch auf dem originalplakat) so geschrieben: «Die Drei von der Tankstelle.» Das bedeutet ganz klar: «Die Ziffer 3 von der Tankstelle.» Geschätzte 99,99% der leser verstehen es aber nicht so, wie es geschrieben ist, sondern so, wie es gemeint ist: «Die drei [Männer] von der Tankstelle.» – «Lesende müssen […] ein Wort nicht Buchstabe für Buchstabe wie ein Scanner abtasten. Es werden nur soviele Grapheme dekodiert als für das Verständnis nötig sind, dann wird der Dekodierungsprozeß abgebrochen – es sei denn, man stellt auf den ‹Korrekturlesemodus› um und arbeitet jedes Wort linear ab. Die Leser der Moderne, die auf einer total normierten Orthographie bestehen, weil sie sich sonst gestört fühlen, haben sich unnötigerweise dauerhaft in den primitiveren ‹Korrekturlesemodus› gezwungen. Einen funktionellen Vorteil hat diese Selbstdisziplinierungsmaßnahme nicht.» (Elisabeth Leiss, 1997.)

Geschrieben gemäss http://www.kleinschreibung.ch
Rolf Landolt
http://www.rechtschreibreform.ch

 

antworten


Beiträge zu diesem Thema

Wie lernen wir schreiben?
Rolf Landolt -- So, 28.10.2012, 19:00
Re: Wie lernen wir schreiben?
Karla Krauschen -- Mo, 29.10.2012, 23:58