Rezensionen
Das Lesikon der visuellen Kommunikation
Visuelle Kommunikation in all ihren Facetten zu erfassen ist angesichts der Heterogenität und Vielfalt dieses Gebiets mehr, als jedes Nachschlagewerk leisten kann – sollte man zumindest meinen. Die Grafikerin Juli Gudehus hat es dennoch gewagt: »Das Lesikon der visuellen Kommunikation«, mehr eine Collage als ein Lexikon, ist ein epochales Werk, das sich seinem Sujet auf exakt 3.000 Seiten aus allen nur denkbaren Blickwinkeln nähert. Ein Nachschlagewerk, in dem man sich voll und ganz verlieren kann, das in seiner Fülle an Querverweisen und assoziativen Bezügen das vorgegebene Korsett des Lexikons gleichzeitig stringent einhält und lustvoll sprengt.
Werbung, Kunst, Design, Grafik, Fotografie, Typografie – all dies und noch viel mehr wird heute unter visueller Kommunikation zusammengefasst, einem Begriff, der ursprünglich von der Kunstpädagogik mit Blick auf die bildende Kunst geprägt wurde. Dass das »Lesikon« (= Leselexikon) in seinem Blick darauf eher als opulente Momentaufnahme denn als der Weisheit unbedingt letzter Schluss verstanden werden will, zeigt schon das einleitende Bonmot auf der ersten Seite: »Nichts ist sicher und nicht einmal das ist sicher« – letztlich liegt es am Leser, zu entscheiden, welche Schlüsse er aus dem zusammengetragenen Material zieht und was davon für ihn interessant ist.
Eine DIN-A4-Seite mit einigen typografischen Grundbegriffen für einen Workshop bildeten Grundlage und Startschuss für eine redaktionelle Arbeit, die sich über neun Jahre erstreckte und die die Autorin mit »dem unermüdlichen Verweben vieler vieler Fäden zu einem unendlich großen und detailreichen Teppich« verglichen hat. Am Schluss standen viele Texte von Juli Gudehus selbst, aber auch Gastbeiträge von 627 Autoren und reichlich Zusammengetragenes, um 42.029 Begriffe aus der Welt der visuellen Kommunikation umfangreich zu beschreiben. Die Lemmata sind nicht alphabetisch angeordnet, sondern nach 9.704 Assoziationsfeldern unterschiedlicher Natur, auch und gerne nach Wortfamilien, wobei dem assoziativen Zugang schon einmal spielerisch die richtige Schreibweise geopfert wird: Unter »Zeigen Sie mal Ihre Pappiere!« (sic!) findet sich beispielsweise alles zu Papier und Pappe, während »im Kitchen« Begriffe wie Fontkitchen (ein Fontgestalter), Fotozelle und Verlaufsgitter ihren Platz finden, aber auch ein Ehrenplätzchen für den legendären Karikaturisten
Gerne werden auch Doppeleinträge (mit entsprechenden Hin-und-her-Verweisen) geduldet, so findet sich der Laptop als Haupteintrag im Kapitel »on the top«, während es unter »anziehen« über ihn heißt: »Ein typisches Kleidungsstück der 80er Jahre: dem »Lumpenlook« entsprechend aus künstlich oder wirklich zernutzten Lappen zusammengenähtes Oberteil. Aus verständlichen Gründen aus der Mode gekommen.« Subtiler kann man wohl kaum darauf hinweisen, dass ein Begriff veraltet ist. Die Hose wird im gleichen Kapitel als »Satz, welcher aufgrund einer daneben stehenden Abbildung kürzere Zeilen hat« definiert, gleichzeitig wird das Stichwort als Aufhänger genutzt, um aus einem viel beachteten Interview mit Florian Hufnagl zu zitieren: »Design geht immer dann in die Hose, wenn es zu aggressiv wird oder nicht zum Produkt passt.«
Hintersinnig und hintergründig, oft auch humorvoll, doch nie albern: Das »Lesikon« ist ein Lexikon, wie es in einer Zeit gebraucht wird, die keine Lexika mehr braucht. Zur reinen Wissensabfrage gelangt man mit Google und Wikipedia allemal schneller ans Ziel. Doch man verpasst dann zum einen eine durchaus intelligente und kreative Vorsortierung der Ergebnisse, zum anderen gelingt dem »Lesikon« ein ums andere Mal ein kreatives »Verbiegen« der Suchanfrage hin zu Ergebnissen, die einen wirklich überraschen. Man erhält Antworten zu Fragen, die man so gar nicht gestellt hatte, und bekommt Fragen eröffnet, von denen man geglaubt hatte, die Antworten schon zu kennen.
Obgleich eher Grafiker und Designer die Zielgruppe des Buches sind, werden auch alle Sprachliebhaber auf ihre Kosten kommen – schließlich geht es um die sprachliche Erschließung der Welt der visuellen Kommunikation (weshalb das Buch auch konsequent auf Abbildungen verzichtet). Und Bibliophile werden ihre helle Freude an der überaus liebevollen Gestaltung und wertigen Ausführung der Dünndruckausgabe haben: Jedes Exemplar wird im Schuber mit individuellen Lesezeichen ausgeliefert.
Juli Gudehus:
Das Lesikon der visuellen Kommunikation
Verlag Hermann Schmidt, Mainz, 2010
Broschiert im Schuber, 3.000 Seiten
Weitere Infos: lesikon.net
Julian von Heyl am 20.03.12 | Kommentare (1) | Visits: 11136
Rubrik Rezensionen: Welches Wörterbuch bietet den besten Mehrwert, welche lexikalische Software sollte man in jedem Fall auf seinem Computer haben? Hier finden Sie einige Besprechungen ausgewählter Fachliteratur. |
Kommentare
1 Anke von Heyl
Ein wahrlich beeindruckendes Projekt, das auch noch mit vielen Lese-Events eine weitere schöne Facette erhalten hat.
Geschrieben von Anke von Heyl am 20.03.12 21:54
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