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Nachgefragt

Der eingebildete Kranke

Frage:
»Der eingebildete Kranke« ist bekanntlich der Titel eines Theaterstücks von Molière. Die Wendung wird aber auch häufig als Umschreibung für Hypochonder genutzt und findet sich an dieser Stelle auch in den Dudenwerken. Gelegentlich wird nun eingewendet, dass diese deutsche Übersetzung von »Le Malade imaginaire« grammatisch fehlerhaft sei; schließlich sei der Kranke nicht eingebildet (weder im Sinne von arrogant noch in dem Sinne, dass er nur in der Einbildung anderer bestehe), sondern er bilde sich seine Krankheit ein. Entsprechend müsse es eigentlich »der eingebildet Kranke« heißen, schließlich spreche man auch vom »frisch Verliebten« und nicht vom »frischen Verliebten«. Wie sieht die Dudenredaktion das?
Julian von Heyl, korrekturen.de

Antwort:
Da haben Sie mal wieder einen spannenden Fall hervorgeholt! Um es vorauszuschicken: Beide Schreibweisen, sowohl »Der eingebildete Kranke« als auch »Der eingebildet Kranke«, können als korrekt angesehen werden. Hierbei sind beim Komödientitel »Der eingebildete Kranke« drei sprachlich interessante Aspekte festzustellen. Zum einen die Ebene der paradoxen Wortverbindungen, die regelmäßig Ziel sprachkritischer Änderungswünsche sind und zu denen wir in der Dudenredaktion auch regelmäßig Nachfragen erhalten; zum anderen die Bedeutung von »eingebildet«, und ein weiterer relevanter Aspekt ist der Wortbildungstyp von »Kranker«.

Zur Bedeutung der Wortverbindung:
Mir scheint »der eingebildete Kranke« ein Beispiel für eine Gruppe von Wortverbindungen zu sein, die genau betrachtet nicht richtig passen, aber trotzdem verwendet und verstanden werden. Ein ähnliches Beispiel ist »das 150-jährige Jubiläum der Firma«. Auch hier liegt eine Verbindung aus einem attributiven Adjektiv und einem Substantiv vor, die bei genauem Hinsehen nicht ganz korrekt ist, sich aber durch Bedeutungserweiterung fest im Sprachgebrauch verankert hat. Allen ist klar, dass das Jubiläum selbst nur ein Jahr dauert. Aber alle wissen, was mit einem 150-jährigen Jubiläum gemeint ist: Das 150-jährige Bestehen von etwas. (Dazu haben wir im Duden 9 auch einen eigenen Artikel unter »Jubiläum«.)

Andere Beispiele, die ähnlich regelmäßig sprachkritisch aufgegriffen werden, sind die »deutsche Sprachwissenschaft« (für »Wissenschaft zur deutschen Sprache« und nicht »deutsche Wissenschaft zur Sprache«), der »milliardenhohe Verlustbringer« oder die »namentliche Meldepflicht«. Die Beispiele dieser Gruppe zeichnen sich dadurch aus, dass sich das Adjektiv nicht wie üblich auf das Grundwort, sondern auf das Bestimmungswort (also den ersten Bestandteil) des nachfolgenden Kompositums bezieht.

Zur Bedeutung von »eingebildet«:
Das Adjektiv »eingebildet« hat im Deutschen zwei Lesarten. Die Lesart »hochmütig, stolz, überheblich« bezieht man deutlich eher auf Menschen als die Lesart »ausgedacht, erfunden«, um die es bei Molières Stück ja eigentlich geht. In der ersten Übersetzung hieß die Komödie wohl »Der Kranke in der Einbildung«. Dieser Titel ist präziser, ihm fehlt dabei aber die (beabsichtigte oder unbeabsichtigte) Doppeldeutigkeit des Adjektivs »eingebildet«. In der Lesart bei »Der Kranke in der Einbildung« geht es eindeutig nur um die eingebildete Krankheit.

Zur Wortbildung von »der Kranke«:
Das Substantiv »der Kranke« ist vom flektierten Adjektiv »kranke« abgeleitet. Wenn ein anderes Adjektiv sich auf dieses Adjektiv bezieht, wird es nicht flektiert, z. B.: »der eingebildet kranke Mann« im Unterschied zu »der eingebildete, kranke Mann«. Im zweiten Fall beziehen sich beide Adjektive auf das Substantiv.

Die Alternative »der eingebildet Kranke« zeichnet den nicht flektierten Bezug auf das ursprüngliche Adjektiv »kranke« nach. Wenn attributive Adjektive dem Substantiv vorangehen, werden sie normalerweise flektiert. Wenn sie aber ein Adjektiv näher bestimmen, bleiben sie auch unflektiert, wenn das näher bestimmte Adjektiv substantiviert wird. Weitere Fälle dieser Art sind »der chronisch Kranke« zu »chronisch krank« oder »die frisch Verliebten« zu »frisch verliebt«. Folgerichtig müsste und könnte es für eine eindeutige Lesart des Komödientitels also »der eingebildet Kranke« heißen.
Dr. Laura Neuhaus, Dudenredaktion

Julian von Heyl am 22.03.21 | Kommentare (4) | Visits: 19666

Rubrik Nachgefragt:

Auch die Fachliteratur hilft nicht mehr weiter? Wir haben nachgefragt und kompetente Antwort erhalten: Die Dudenredaktion klärt für uns grammatische und orthografische Zweifelsfälle der deutschen Sprache. Unser Tipp: Schnelle Telefonauskunft erhalten Sie bei der Duden-Sprachberatung.

Kommentare

1  Dunker

Tolle Rubrik, eben entdeckt - vielen Dank. :)

Geschrieben von Dunker am 24.05.21 21:54

2  maru

Hallo, liebe Leute bei korrekturen!
Wenn ich etwas nachschlagen will, suche ich erst bei Ihnen.
Duden = nicht gerne! Aber Ihre Anfrage bei DUDEN jetzt finde
ich toll! "Der eingebildet(e) Kranke" hat mich gleich wieder
ans Theaterstück erinnert, und ich sehe ihn im Bett liegen.
Mit Frau Dr. Neuhaus sah ich mal ein Interview im TV.

Da ich auch Korrektur lese seit 12 Jahren (per Zufall), muß
ich mich ab + zu doch mal informieren.

Danke für Ihre Rubriken. Weiter so!!
Lieben Gruß
maru

Geschrieben von maru am 17.10.21 20:13

3  Harry

Man vergleiche auch den "kubistischen Maler" oder den "theoretischen Physiker".

Geschrieben von Harry am 25.10.21 23:23

4  Sprachbeobachter

Danke für diese fundierte Analyse der Fragestellung!
Sie schreiben "Wenn ein anderes Adjektiv sich auf dieses Adjektiv bezieht, wird es nicht flektiert ..."
Hier könnte man von einem quasi adverbiellen Gebrauch des Adjektivs sprechen.
Da es aber kein Verb gibt, sollte man für solche Fälle vielleicht den Begriff "Adadjektiv" in Analogie zum Adverb einführen, denn es bleibt ja ebenso unflektiert wie ein Adverb.

Geschrieben von Sprachbeobachter am 12.12.21 11:04

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